Irgendwo zwischen Bad Hersfeld und Fulda, am Rande Hessens, nahe der Grenze zu Thüringen, liegt eine Burg. Von Bad Hersfeld aus fährt man etwa 20 Minuten durch kleine Dörfer und schaut freudig hinaus in die Natur. Für Flachländer aus Norddeutschland ist das hier schon Hochgebirge, so viele Hügel verdecken den möglichen Blick auf den Horizont. Hinter jeder Kurve ändert sich die Landschaft, sonnenbeschienene weite Felder wechseln mit Baumgruppen, Erhebungen und Tälern. Dazwischen liegen kleine Dörfer und Ansammlungen von Häusern, in denen die Straße wie ein Affront gegen die Gediegenheit wirkt. Am Burgtor der Höhenburg nahe der kleinen Gemeinde Eiterfeld angekommen, eröffnet sich ein Bildungsort, der seinesgleichen sucht. Hier lässt es sich aushalten.
Wohin man auch geht, wohin man auch schaut, es herrscht eine wohltuende Ruhe, die mit einer fast übertriebenen Entspannung einhergeht. Wenn an diesem Ort, einer Burg, über Fotografie diskutiert wird, dann ist der durchakademisierte Hochschulalltag vielleicht noch eine Randnotiz. Nur durch die Wahl einiger Workshopleiter*innen lässt sich erahnen, dass die praktische Seite des Fotografischen auch in einem Hochschulstudium zu erlernen sein könnte. Und doch fühle ich mich an diesem sonnigen Maiwochenende in die Zeit des Studienbeginns zurückkatapultiert. Alle sind aus den gleichen Gründen am gleichen Ort, alle tragen eine Art Leidenschaft für die knapp zweihundert Jahre alte Technik der Fotografie mit sich herum, ohne dass diese Technik eine übergeordnete Rolle spielt. Das hätte man jedoch durchaus erwarten können. Fotoworkshops stehen nicht ganz zu Unrecht unter dem Generalverdacht, vor allem Technik zu vermitteln. Auf der Burg begegnete mir etwas anderes.
Die 15. Fürstenecker Fototage sind Teil des Kulturprogramms der Akademie Burg Fürsteneck. Laut Selbstdarstellung ist die Burg „… eine Bildungsstätte der kulturellen, beruflichen und gesellschaftspolitischen Weiterbildung mit langer Geschichte und prägender Tradition“. Das spürt man schon in den ersten Stunden, irgendwie läuft alles wie von selbst. Dass hier etwas über Jahrzehnte gewachsen und gut organisiert ist, merkt man nur, wenn man es einfach nicht bemerkt. Dabei ist das Programm so umfangreich, dass man fast blind an einem beliebigen Wochenende im Jahr hingehen könnte und sich schnell in einem der unzähligen Kurs- und Workshopwochenenden wiederfände. Anmelden muss und sollte man sich natürlich trotzdem. Fast alles ist ständig ausgebucht. Von sozialer, beruflicher bis hin zu kultureller Bildung ist die Bandbreite immens. Genauso wie das Kursangebot während der Fototage.
Von Makrofotografie über Portrait- und Produktfotografie bis hin zur Lochkamera und einer durchgehenden mehrtägigen Masterclass konnten die Teilnehmer*innen frei wählen, wonach ihnen der Sinn stand.
Schon am ersten Abend, während des wunderbaren Abendbuffets (von dem sich so manche Hotelkette eine Scheibe abschneiden könnte), stellte sich im Gespräch mit einigen Workshopteilnehmer*innen Erstaunliches heraus. Kaum jemand ist zum ersten Mal auf der Burg. Oliver, bereits zum 5. mal dabei, sieht die Burg als eine Kombination aus Bildung, Auszeit und Urlaub. Ein Ort, an dem man gemeinsam fotografiert und in einer sehr familiären Atmosphäre lernt. Überhaupt fällt in fast jedem Gespräch das Wort Klassentreffen. Nur 4 der 43 Teilnehmer*innen waren in diesem Jahr zum ersten Mal vor Ort. Mit offenen Armen empfangen und integriert, war es mir als Außenstehender unmöglich herauszufinden, wer diese 4 sein könnten. Viel zu selbstverständlich war der Umgang miteinander.
Das ist nichts, weiter!
Bei einem Blick auf die Referent*innen wird dann ebenfalls schnell klar, dass hier sehr gezielt nach Kompetenz und Sachverstand gesucht wird. Die Masterclass wurde wiederholt vom ehemaligen Professor der Fachhochschule Hannover, dem renommierten Fotojournalisten Rolf Nobel, gehalten. Das Grundthema war Roadtrip. Also eine kleine Reise durch die nahegelegenen Teile der Rhön. Als Zaungast saß ich mit offenem Mund bei der Bildbesprechung. Nicht, weil die besprochenen Bilder bahnbrechend gewesen wären, sondern weil die Art der Besprechung einem akribischen Crashkurs in Bildgestaltung glich. Mit Ruhe und Präzision besprach Rolf Nobel jedes einzelne Bild in Form und Inhalt und gab konkrete Tipps für mögliche Verbesserungen. Ausschnitt, Farbe, vielleicht etwas länger mit dem Auslösen warten, Perspektive, alles wurde verständlich erklärt. Die langjährige Lehrtätigkeit an einer Hochschule und die Arbeit als Fotojournalist schulen selbstredend den eigenen Blick und auch den Ton im Umgang mit Menschen, die etwas lernen wollen. Und wenn doch einmal der Satz „Das ist nichts, weiter“ fiel, dann wurde genau das gemacht, weiter. Nicht nur in der Präsentation, sondern auch im Feld. Wieder los, wieder neues Material fotografiert und am nächsten Tag wieder diskutiert. Die natürliche Autorität von Rolf Nobel ließ mich immer wieder schmunzeln. Viele Erinnerungen an mein eigenes Fotografiestudium (nicht in Hannover bei Rolf Nobel) wurden wach. Ich verspürte kurz den Drang, mich auch einmal in die Situation einer Bildbesprechung zu begeben, um dann von Rolf Nobel so souverän mit „Das ist nichts, weiter“ wieder ins Feld geschickt zu werden oder zu hoffen, dass das nächste Bild nur noch in Kleinigkeiten zu korrigieren sei.
Der Lochkamerakurs war bei meiner Ankunft leider schon zu Ende, gerne hätte ich noch einen Blick auf die Gruppe und den Umgang von Gregor Beltzig mit Mensch und Kamera geworfen. Dass Gregor Beltzig lange Zeit Assistent der großartigen Sarah Moon war und auch Direktor der Galerie Camera Obscura in Paris ist, soll hier als weiterer Hinweis auf die bewusste Auswahl der Referent*innen gelesen werden. Glücklicherweise habe ich eines der Ergebnisse dieses Kurses „gefunden“. Einsam auf einem Stuhl liegend, während des morgendlichen Plenums, sprang mir diese kleinformatige, scheinbar undingliche Fotografie ins Auge. Kein Oben, kein Unten, man konnte nur erahnen, was zu sehen war. Eine Baumkrone vielleicht, aber egal. Warum das Bild so einsam und verlassen dort vergessen wurde, war mir ein Rätsel.
Nach einigen Recherchen konnte ich die Schöpferin ausfindig machen. Miriam L., die zum zweiten Mal dabei war, hat mir den Print dankenswerterweise geschenkt. Miriam war dann auch Teilnehmerin des Portraitkurses der Kölner Fotografin Sandra Stein. Dort traf ich Miriam zum ersten Mal und erfuhr in der kleinen Kennenlernrunde, dass sie eigentlich in der akademischen Wissenschaft arbeitet und diese Workshoptage für ihre persönliche zweite Leidenschaft, die Fotografie, nutzt. Dass sie neben ihrer Arbeit nicht nur immer wieder Portraits macht, sondern sich auch gezielt (Berufs-)Gruppen für ihre Fotografie sucht, war durchaus überraschend. Angefangen von Fotos einer Miss World, über Jäger (letztes Jahr) bis hin zu Fernfahrern. Fotografie, um sich den Dingen zu nähern, toll. Ihre eigenen Porträtarbeiten hat sie auch schon mit Stipendien querfinanziert. Den Kurs von Sandra Stein hat sie besucht, um den Bildanteil in ihren eigenen Arbeiten nicht nur zu erhöhen, sondern weiter zu verbessern, denn nach ihrer eigenen Einschätzung ist der Textanteil in ihren Arbeiten noch zu hoch. Interessant. Klingt nach Konzeption im Fotostudium, ist aber auf wunderbare Weise rein intrinsisch motiviert. Von einfachem Ausprobieren, Porträts, die ein „Das ist nichts, weiter“ verdient hätten, über ganz eigene Ansätze bis hin zu schönen „Glückstreffern“ war vieles dabei. Das Erstaunlichste aber war: Alle schienen ganz glücklich zu sein, einfach so, in aller Ruhe und ohne Druck fotografieren zu können. Auch hier gab es bei den anschließenden Bildbesprechungen keine überflüssigen Diskussionen. Nur die Glocke (ja, es ist eine laute, analoge Glocke) zum Mittag- und Abendessen unterbrach den Unterricht jeweils jäh. Wie Grundschüler beim Pausengong schienen die Anwesenden die Räume in Richtung Speisesaal zu verlassen und alles hinter sich zu lassen. Ja, die Essenszeiten wurden pedantisch eingehalten. War aber auch lecker.
Da sich die Teilnehmer*innen einig waren, dass ein eintägiger Portraitkurs vielleicht zu kurz ist, wurde von mehreren direkt eine eigene Masterclass mit Sandra Stein für das nächste Jahr gefordert. Ja, das ist hier selbstverständlich: Am Ende des Wochenendes können alle ihre Wünsche und Anregungen für die nächsten Fototage aufschreiben. Die Themen- und Kurswünsche waren dementsprechend sehr breit gefächert und reichten von Wet Plate Fotografie über serielles Arbeiten bis hin zu feministischer Fotografie und der Form des Haiku. Nicht schlecht.
Michael Ebert hielt am Freitagabend einen sehr unterhaltsamen und frei vorgetragenen Vortrag zum Thema Fake in der Fotografie. Und wenn man hier einen alten Hut vermutet, heißt das nicht, dass er nicht passt. Er passte perfekt. Michael Ebert hat diesen Vortrag genau für sein Publikum gehalten, in dem Wissen, hier nicht ausschließlich Akademiker*innen oder Fotostudierende zu treffen, die sowieso schon alles wissen (glauben). Die Balance zwischen Sachinformation, Fotogeschichte und Humor wünscht man sich öfter. Auch abseits der Burgen und Workshops. Basics sind immer gut.
Im Prinzip hat ein Workshop-Teilnehmer dann die Fototage so charmant zusammengefasst, dass mir nichts anderes übrig blieb, als Thorsten F. (zum 7. Mal dabei) zu zitieren.
„Coole Workshops, coole Burg“
Was soll ich da noch sagen? Ich unterschreibe.
Die Auswahl und Bandbreite der Workshops ist dem Leiter des Kulturprogramms Wolfram Benczek zu verdanken. Er hat dafür gesorgt, dass seit vier Jahren Michael Werthmüller vom Fotopodcast zusammen mit Teona Gogichaishvili die künstlerische Leitung übernehmen. Michael selbst ist auch das dienstälteste Mitglied der Fototage. Nach ein paar Tagen auf der Burg ist auch schnell klar, warum alle immer wieder kommen: Es ist nicht nur der Ort, die Burg, die irgendwie einzigartig ist, es ist die Stimmung, mit der man sie wieder verlässt, durch diese Dörfer, Felder und Hügel. Als wäre man gerade auf Klassenfahrt mit Fotofreunden gewesen und hätte sich spätestens in Bad Hersfeld schon den Termin für das nächste Jahr in den Kalender eingetragen.
Mehr Infos gibt es unter https://www.burg-fuersteneck.de/home/
Die Kollegen vom Fotopodcast (sehr sehr nette und gute Menschen, liebe Grüße) finden sich hier: https://fotopodcast.de
Alles was Teona so macht dann hier: https://www.teonaphoto.com/
Die Podcastepisode mit Teona findet sich hier: PODCAST
Die Fotografin Sandra Stein findet man hier: https://sandra-stein.de
Gregor Beltzig findet man hier: https://www.gregorbeltzig.com/
Die Galerie Camera Obscura hier: https://www.galeriecameraobscura.fr/