Das alljährliche Arles macht Arbeit
Wenn man nach ca. 12-13 Stunden Zug- und Taxifahrt endlich in Arles ankommt, hat man schnell das Gefühl, in einer Zeitschleife gefangen zu sein. Wie jedes Jahr ist man zwar etwas erschöpft von der langen Reise, aber gleichzeitig voller Vorfreude auf die kommenden Tage voller Fotografie, Ausstellungen und alten und neuen Freunden. Zumindest war es bisher immer so. In diesem Jahr stand das eigene Programm schon vor der Abreise fest und so war ein ruhiger Start ins Festival nicht ganz möglich. Schließlich hatten Helena Melikov (als Teil der Sektion Bild der DGPh), Tobias Laukemper und ich uns ein entspanntes Review-Format ausgedacht. Wo, wenn nicht in Arles, wäre es passender, den Tag mit einer Kombination aus Petit Déjeuner und Fotografien, Büchern und Portfolios zu beginnen? Getreu dem Namen gab es jeden Morgen zwischen 9 und 11 Uhr die Möglichkeit, bei den Early Birds Reviews fotografische Projekte zu präsentieren, zu diskutieren oder einfach nur Feedback zu bekommen.
Dafür hatten wir einen lockeren Zeitrahmen von 30-40 Minuten vorgesehen, um dem Stakkato-Modus der anderen Portfolioreviews entgegenzuwirken. Für mehr als drei Personen war eigentlich keine Zeit. Deshalb musste man sich auch vorher per Mail anmelden. Bezahlung in Baguettes und Croissants. Ja, wir haben in der Woche viel Mehl gegessen. Außerdem haben wir jeden Tag eine Persönlichkeit aus der Fotoszene eingeladen. Vielen Dank an Alexandru Pasca (Manager Magazin), Rebecca Wilton (Distanz Verlag), Cale Garrido (Freie Kuratorin), Tina Ahrens (Zeit Online) und Julia Bunnemann (Photoworks UK). Dass im Laufe der Tage immer mehr Leute einfach so zum Frühstück dazukamen und sich auch an den Reviews beteiligten, trug nur zur guten Stimmung bei. Ob es Daniel Oschatz von der DGPh, Franziska Kunze und Andreas Langfeld waren, die plötzlich gut gelaunt um die Ecke schlenderten und bald mit einem Kaffee am Tisch saßen, oder Dirk Gebhardt und Kai Jünemann von der FH Dortmund, die eigentlich jeden Morgen einfach zum Plaudern und Frühstücken vorbeischauten, es war immer etwas los. Obwohl es manchmal morgens so frisch war, dass manche nach einer Decke fragten. Unvorstellbar, in Arles.
Wir haben fast ausschließlich nur gute Arbeiten gesehen. Auf die Arbeit von Louis Roth werde ich noch gezielter eingehen. Er hat sein Buch „fata morgana“ beim Review gezeigt und das war wirklich beeindruckend. Der Tag begann also immer mit einer ordentlichen Portion Hirnschmalz. Dass man natürlich vorab verdrängt, was so ein Review um diese Uhrzeit bedeutet, wurde zumindest mir schon am zweiten Tag klar. Jeden Tag um ca. 7.30 Uhr aufstehen, Kaffee kochen, den Tisch auf die Straße stellen, Stühle, Teller, Tassen dazu, Tomaten schneiden, etc. Wenn man dann so gegen 11.30 Uhr irgendwie durch war, war man eigentlich durch. Wie andere nach ca. 15 20min-Slots noch weitere Termine vor Ort wahrnehmen und Ausstellungen besuchen, um dann noch jede Abendveranstaltung mitzunehmen, nötigt mir höchsten Respekt ab. Auch wenn ich bis auf 3 oder 4 Ausnahmen eigentlich alle großen Ausstellungen in Arles gesehen habe, stellte sich bei mir zumindest in diesem Jahr schnell eine gewisse Müdigkeit (nicht nur wegen des frühen Aufstehens) ein. Wenig konnte mich wirklich restlos überzeugen. Vielleicht ist es ungerecht, aber irgendeine Ausstellung ist leider immer die erste, die man vor Ort sieht. Die Erwartungen sind noch hoch und die gute Laune trägt einen noch ein wenig. Gleichzeitig ist gerade die erste Ausstellung dann meist diejenige, die von allen kommenden überlagert wird. Da kann man sich noch so sehr um Objektivität bemühen. Das Gleiche gilt für die letzten Ausstellungen, die man vor der Abreise noch sieht. Man geht mit so vielen Eindrücken und Gesprächen der vergangenen Tage in wahrscheinlich gute Ausstellungen, kann sie aber kaum noch genießen. Ging zumindest mir so. Meist findet man dann aber doch noch ein paar Ausstellungen, die aus dem wahnsinnigen Bilderrauschen als Signal herausstechen.
Gute Ausstellungen
Für mich war das in diesem Jahr „When images learn to speak“, kuratiert von Urs Stahel. Konzeptuelle Dokumentarfotografie aus der Sammlung von Astrid Ullens De Schooten Whettnall. Die Liste der Künstlerinnen und Künstler ist zu lang, um sie hier aufzuführen. Die Ausstellung bot einen so großartigen Überblick über die letzten 100 Jahre, dass man ein Stück Fotogeschichte miterleben konnte. Wie auch immer, Urs Stahel hat es geschafft, eine Ausstellung mit dokumentarischen Fotografiepositionen zu kuratieren, die die einzelnen Arbeiten fast ausschließlich in Clustern oder Tableaus an die Wand bringt, ohne auch nur eine Sekunde zu langweilen. Großes Kino. Große Ausstellung.
Irgendwie hat sich auch in Arles schnell herumgesprochen, dass die Ausstellung von Sophie Calle in den Katakomben quasi ein Pflichtbesuch ist. Dem schließe ich mich an, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass die Katakomben in der Arbeit eine so große Rolle spielen, dass von den einzelnen Teilen der Arbeit bei mir nicht so viel übrig geblieben ist, wie ich vor Ort gedacht hatte. Aber beeindruckend war es trotzdem. Im Prinzip fand sich in fast jeder Ausstellung irgendein Versatzstück, ein Bild, eine Arbeit, ein Konzept, das die Augen und den Kopf größer werden ließ. Wirklich begeistert war ich aber erst von der Ausstellung „E-waste au Ghana: sur la route des déchets électroniques“ von Anas Aremeyaw Anas, Muntaka Chasant und Bénédicte Kurzen. Nicht, dass ich dort die besten Fotos gefunden hätte. Ganz und gar nicht. Aber die Ausstellung hatte etwas, das sie von allen anderen unterschied. Die richtige Nutzung des Raumes (hier mehrere Räume) in Kombination mit einer verständlichen und stringenten Präsentation. Ich wüsste nicht, wie man diese Arbeit anders zeigen könnte. Alu-Dibond hin, Alu-Dibond her. Wir als Sektion Bild haben dann dort auch einen kleinen Rundgang gemacht. Kann man hier sehen. Oder hier auf Instagram.
Natürlich gab es noch viele andere sehr gute Ausstellungen. „Fashion Army“ gehörte zweifellos dazu. Leider wurde dieser Ausstellung (für mich) zum Verhängnis, dass es 2019 in Arles eine großartige Ausstellung mit einem sehr ähnlichen Bildduktus gab. Und diese war „Fashion Army“ leider haushoch überlegen. In beiden Ausstellungen waren Archivbilder zu sehen, die bei Fashion Army (scheinbar dokumentarisch) Kleidung und bei „The Saga of Inventions“ diverse Erfindungen mit fotografischen Mitteln zu erklären und dokumentieren versuchten. Was natürlich zu unfreiwillig komischen Bildern führte. Die Ausstellung von 2019 war dann nicht nur deutlich sauberer und präziser kuratiert und präsentiert, auch die Bilder, allesamt in Schwarzweiß, hatten einen fabelhaften Hang zur (neuen) Sachlichkeit. In „Fashion Army“ war alles ein bisschen bunter. Von den Bildern bis zur Wandfarbe. Auch die Präsentation an der Wand war nicht ganz so ernst. So fehlte mir der subtile Humor, der 2019 ausschließlich über die Ernsthaftigkeit der Fotografien vermittelt wurde. Manchmal kann man solchen klaren Bildern auch einfach vertrauen. Trotzdem musste ich wieder schmunzeln. Warum man aber 5 Jahre nach einer so tollen Ausstellung solche Arbeiten irgendwie noch einmal in einer Einzelausstellung zeigt, bleibt wohl ein Rätsel.
Alle weiteren guten Ausstellungen hier zu nennen, würde den Rahmen sprengen. Erwähnt seien aber die Ausstellung „Wagon Bar“ wegen ihrer wunderbar schlechten Food-Fotografien, Christina De Middels „Journey to the Center“ wegen ihres sehr guten Themas (die Migrationsroute durch Mexiko nach Kalifornien) und der sehr guten Präsentation in der riesigen „ÉGLISE DES FRÈRES PRÊCHEURS“ sowie Debi Cornwalls „Model Citizens (And Necessary Fictions)“. Cornwall zeigt darin sehr eindrucksvoll, dass Krieg und Konflikt offenbar auch sehr realitätsnah geprobt und trainiert werden müssen. Das (Portrait-)Diptychon des grinsenden und scheinbar schwer verletzten Soldaten (Schauspieler?) geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Verrückte Welt. Gute Arbeit. Und natürlich die Ausstellung „RIVERS OCEAN, THE LANDSCAPE OF MISSISSIPPI’S COLORS“ von Nicolas Floc’h. Ein schönes Werk über die Farben des Mississippi und seiner Ausläufer. Die Farbverläufe sind Dokumente der Wasserfarben in Kombination mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen der umgebenden Landschaft. Ein sehr tolle Kombination, gut im Raum präsentiert.
Und sonst? Jeden Tag um 7.30 Uhr aufzustehen, um dann nonstop zu reden, zu schauen, zu verstehen und zu analysieren, hinterlässt selbst bei einer Plaudertasche wie mir Spuren. Die ersten Stunden im Zug auf der Rückfahrt habe ich schweigend aus dem Fenster geschaut. Fahre ich wieder nach Arles? Gewiss. Auch wenn sich selbst bei mir nach nur 6 Besuchen schon so etwas wie Müdigkeit einstellt. Da helfen nur Kaffee und Croissants und die schöne Hoffnung, am Abend, in der Nacht oder auch am Morgen plötzlich wieder auf Menschen zu treffen, die man wirklich lange nicht gesehen oder gesprochen hat. Danke.