Das große Unbehagen

Schweinebewusstsein im Sprengel Museum

Von Alexander Hagmann

Schweine – dieses Wort ist so aufgeladen und besetzt, schon für die Idee, daraus das Thema einer Ausstellung zu erarbeiten, hätte Inka Schube Beifall verdient. Ausgelöst durch die Information, dass der deutsche Marktführer im Bereich Ferkelproduktion (das Wort allein sollte einem die Schuhe ausziehen) und Schweinemast an eine Schweizer Aktiengesellschaft verkauft wurde, entfacht sich ein faszinierend komplexer Themenreigen, der letztlich zu einer Kunstausstellung geführt hat, die das eigene Thema wirklich ernst nimmt.

Angefangen bei den möglichen Konnotationen des Wortes “Schwein”, zur (unsichtbaren) Verarbeitung von lebendigem Tier zu jeglicher Form von Ware, über ökologische Auswirkungen der Massenproduktionen sowie die ökonomischen Zusammenhänge zwischen Mensch, Land, Tier und Gier. Es wäre ein Leichtes, an der Unmöglichkeit zu scheitern, diese Zusammenhänge zu zeigen, ohne nur Symptome abzubilden oder zu beschreiben. Genau das ist in dieser Ausstellung nicht passiert. Alles, was man nicht sehen kann, was man nur glaubt oder fühlt oder denkt, geschieht in den Übergängen und Verbindungen zwischen den Arbeiten. So wird zwischen der computergenerierten Beschreibung einer Schlachtung (Young-Hae Chang Heavy Industries – How to Slaughter a Hog at Home Humanely) und dem Abtasten eines narkotisierten Schweins während einer tiermedizinischen Übung (Felix Bielmeier – Übung (Palpation)) bereits klar, welches schräge Verhältnis mittlerweile zwischen Mensch und Schwein herrscht.

Die gezeigten Arbeiten der monothematischen Gruppenausstellung tragen ihre eigene medienspezifischen Stärken im Gepäck und lassen mögliche Schwächen zu Hause. Bei den Fotografien von Jochen Lempert reicht es, den Schweinen lange in die Augen zu schauen, um zu spüren, dass die Fotografie noch immer dazu dienen kann, etwas zu bezeugen – nämlich, dass Schweine sehr wohl nach oben schauen können. Leider geben wir als Menschen ihnen hierzu kaum einen Anlass.

Schweinebewusstsein im Sprengel Museum Hannover

Wenke Seemanns dreiteilige Arbeit “Archivdialoge #3” bringt den Satz “Für die immer weitere Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensstandards der gesamten Bevölkerung” so oft an die Wand, bis das 1:1-Schema eines Mastschweinestalls mit Vollspaltboden für 12 Tiere sichtbar ist. Man kann sich kaum vorstellen, wie 12 ausgewachsene Schweine auf dieser Fläche stehen. Es ist ein verstörender Gedanke, von dem ich mich schnell abgewandt habe.

Weitere Werke hervorzuheben fällt schwer, da die 16 ausgestellten Positionen zu einem stimmigen Gesamtbild verschmelzen, ohne einander die Butter vom Brot zu nehmen. Kein Werk beansprucht zu viel Raum oder drängt sich in den Vordergrund. Wo man sich normalerweise bei Gruppenausstellungen mit ein oder zwei Highlights zufriedengibt, scheint hier keine Arbeit ohne die andere auszukommen. Andrzej Steinbachs “Mögliche Ordnung” ist auch alleinstehend eine gute Gelegenheit, über die eigene Identität zu reflektieren und abzugleichen, was beim nächsten Einkauf den Weg in den eigenen Kühlschrank finden würde.

In diesem Fall lässt sich die “Mögliche Ordnung” jedoch als Teil einer deutlich größeren Reflektionsebene lesen, da die anderen Arbeiten Ähnliches während des Betrachtens auslösen. Welches Geld wird mit welchem Produkt an welcher Stelle der Wertschöpfungskette wo transferiert? Wo richtet diese unsichtbare Industrie welchen Schaden an? Was landet, schön verpackt und vorbereitet, auf dem heimischen Tisch? Auf diese und weitere Fragen kann und will die Ausstellung keine konkreten Antworten geben, sondern leistet die wundervolle Arbeit, als Geburtshelferin unzähliger ähnlicher Fragestellungen zu dienen.

Es ist so offensichtlich wie selbsterklärend: Die industrielle Fleischproduktion dient allein den Besitzer*innen der Produktionsstätten. Dass es noch keinen gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, dieser Industrie misstrauisch gegenüberzustehen, überrascht angesichts des Überflusses an Informationen. Auch ausserhalb dieser Ausstellung. Katalog und Projektwebseite sind übrigens mehr als sehenswert.

Was kann eine Kunstausstellung also bieten, was nicht auch nach einer kurzen Internetrecherche verfügbar ist? Die klare Antwort: Alles. Das physische und mentale Unbehagen, das nach dem Besuch auftritt, stellt sich nicht allein durch die Aufnahme von Informationen ein.

Würde ich objektiv urteilen, könnte ich ohne zu zögern behaupten, dass diese Gruppenausstellung wahrscheinlich zu den besten gehört, die ich in den letzten Jahren gesehen habe. Der Bewertungskatalog für Ausstellungen ist lang, doch nur selten wird er so umfassend genutzt wie hier. Thema, Präsentation,  Raumnutzung, Ernsthaftigkeit und Humor, Arbeiten mit visueller und Inhaltlicher Tiefe, gepaart mit einem Themenkomplex der erkenn- und erfahrbar ist, ohne jeden Text lesen zu müssen. Es fällt schwer, ernsthafte Kritikpunkte zu finden oder zu formulieren.

Würde ich subjektiv urteilen, könnte es sein, dass mir vielleicht eine fotografische Arbeit fehlt, die nicht nur inhaltlich, sondern auch visuell beeindruckt. Während die meisten fotografischen Werke der Ausstellung dokumentarisch, sachlich und seriell daherkommen, hätte eine visuell-emotionale Fotografie vielleicht einen spannenden Bruch geschaffen. Ich denke aber, dass das Thema zu ernst ist, als dass man auf diesen Wermutstropfen verzichten könnte.

Mein Lieblingsschwein der Ausstellung ist übrigens Klee. “Klee ist die Schwester von Mohn und hat einen eigenwilligen Charakter. Sie ist freiheitsliebend und geht gerne spazieren. Dabei nimmt sie manchmal ihre ganze Familie mit. Ihre hohe Intelligenz zeigt sich an ihrer Ausbruchsfähigkeit.“

Die Ausstellung „OCULAR WITNESS – SCHWEINEBEWUSSTSEIN“ ist noch bis 05.11.2023 im Sprengel Museum Hannover zu sehen und wird in immer veränderter Form in kleineren und größeren Ausstellungsorten in ländlichen Räumen zu sehen sein.

Mehr unter www.schweinebewusstsein.de