Eigentlich gibt es dort nichts zu sehen

von Bernd Stiegler

Im Himmel über Medjugorje soll eine Gruppe von Jugendlichen 1981 eine Marienerscheinung gehabt haben. Ein Reisebericht über den Glauben an Bilder, kuriose Souvenirs und verheißungsvolle Wolkenformationen.

Der Himmel über Medjugorje © Bernd Stiegler

Früher, so steht es im Reiseführer, war die Gegend rückständig und lebte einzig vom Tabak und anderen landwirtschaftlichen Produkten. Rückständig ist sie heute noch – aber in einem anderen Sinne. Wenn man sich mit dem Auto auf den Weg zu einer der wichtigsten Pilgerorte der letzten Jahrzehnte, nach Medjugorje, macht, so kommt man, wenn man den Vorgaben des Reiseführers folgt, erst einmal einige Kilometer vorher durch eine Museumsstadt, in der man sehen kann, was der Bürgerkrieg angerichtet hatte und was seitdem geschehen ist. Počitelj erreicht man am Fuß eines Hügels und steht gleich auf dem Parkplatz inmitten einer Ladenzeile, wo diverse Waren von einheimischem Honig bis zu vermeintlichen Antiquitäten angeboten werden.

Die Moschee dort wurde, wie alle anderen der Gegend, im Krieg zerstört, allerdings, anders als die meisten, wieder aufgebaut. Die zerstörte Kuppel breitet nun wieder ihr Rund über Touristen und die wenigen Gläubigen, die sich hierher verirren. Der Baum auf dem Vorplatz wurde offenbar seinerzeit nicht getroffen. Viele Jahre alt, wirft er seinen Schatten auf muslimische Schriften und eigentümliche Devotionalien. Geht man weiter den Hang hinauf, so durchläuft man die Verwandlung eines ehemaligen muslimischen Zentrums in ein Museumsdorf. Die Häuser sind alle durch ähnliche neuzeitliche Holztore mit metallenen Türklopfern nach altem Vorbild verschlossen und einige haben sich bereits in Cafés verwandelt, in denen man köstlichen Granatapfelsirup trinken kann, der auf Holzbänken und Tischen präsentiert wird, auf denen einzelne Blumen in winzigen Vasen stehen, die von in Ausstellungsobjekte verwandelten Gebrauchsgegenständen gesäumt sind. Andere erwecken den Eindruck einer musealen Modernisierung, deren Aufgabe noch zu klären sein wird. Es scheint dort bereits jemand zu wohnen, nur weiß jener noch nicht, was mit dem Haus einmal geschehen soll. Die gepflasterten Wege führen den Hang entlang bis zur Festung, die sich auf einen weiteren Parkplatz öffnet. Eine mittelalterliche Stadt, deren Ruinen eine verschwundene Geschichte ausstellen.

Ein gutes Dutzend Kilometer weiter, die durch verschlafene, aber merkwürdig modernisierte Dörfer führen, die fast durchweg aus vor wenigen Jahren erbauten oder umgebauten Häusern bestehen, kommt man dann nach Medjugorje. Auf dem Weg dorthin waren, anders als allerorts in Bosnien, viele junge Wanderer unterwegs – wohin auch immer. Die nächste Bahnstation ist weit, und kein Ort, nirgends, auch hier. In Medjugorje kommt man wiederum auf einem Parkplatz an. Dieser hat ungleich größere Ausmaße als jener des Museumsdorfes, finden doch dort problemlos einige tausend Autos und Busse Platz. Ein Händler hat dort geparkt und die Heckklappe seines Autos hochgeklappt, um Honig, Schnaps und Schildkröten zu verkaufen. Honig scheint mir bei Pilgern ja noch eine naheliegende Ware zu sein (wenn man an das Lob des Bienenwachses in der Osterliturgie denkt), vielleicht sogar auch der Schnaps (wenn man an die Produkte bayrischer Klöster denkt), aber Schildkröten, die in kleinen Käfigen übereinander liegen und krabbelnd nach Luft schnappen, das ist dann doch wohl höchst unchristlich.

Hinter dem Parkplatz öffnet sich eine Art Kreuzweg mit pseudomodernistischen Darstellungen christlicher Motive. Eine bronzene Christusfigur hat offenbar besonderes Gefallen der Pilger gefunden, da die Hüfte des Heilands bereits blankgescheuert ist. Wäre sie aus Fleisch und Blut, so könnte man die Knochen sehen. So aber glänzt sie, während der Rest eine dunkle Patina angenommen hat. In wenigen Jahren werden die Pilger in kleinen Dosen das Metall nach Hause getragen und die Figur unterhalb des Lendenschurzes abgerieben haben. Blumen blühen bestenfalls kärglich inmitten dieser Via Dolorosa, die man durchlaufen muss, um zum Festplatz zu gelangen, der leer, aber bereits mit Tausenden von Stühlen versehen, auf einen Gottesdienst wartet, der auf einem digitalen Display zusammen mit anderen Veranstaltungen angekündigt wird. Medjugorje ist gut organisiert. Für fast jede Sprache der katholischen Welt ist ein Gottesdienst vorgesehen. In der Kirche, einem hässlichen, weißgetünchten Kasten, der wenige Jahre alt ist, hält ein französischer Priester eine reaktionäre Predigt, in der er Marias Bedeutung für die Gegenwart unterstreicht und dabei gegen allerlei modernistische Abweichungen vom marianischen Vorbild wettert. Und rings um das Gotteshaus beginnt die Konsummeile mit Devotionalien, die sich kaum von solchen in Altötting oder Lourdes unterscheidet. 

Einzig das besondere Geschehen, das hier aus einem Ort fernab des Weltgeschehens ein Zentrum der Attraktion gemacht hat, in das selbst in Zeiten des Bürgerkriegs Wallfahrten unternommen wurden, ist in Photographien allgegenwärtig.

Von der Gruppe Jugendlicher, die dereinst eine Marienerscheinung in Gestalt einer Wolke hatten, sind gleich mehrere Bilder überliefert, die sie über die Jahre hinweg zwar altern, aber in derselben Pose einer andächtigen Haltung verharren lassen. Von anderen Erscheinungen werden, neben den Postkarten, auch vermeintlich „echte“ Photos verkauft, auf denen wolkige Erscheinungen hinter Garagen und einfachen Häusern zu erkennen sind. Das Datum ist, wie bei digitalen Bildern älterer Generation, in das Bild hineinkopiert, das eine Spur größer ist als die Postkarten, die einen Bezug zu anderen Erscheinungen der Gottesmutter herstellen.

Wolkenhimmel
Der Himmel über Medjugorje © Bernd Stiegler

Die Aufnahmen sind eine eigentümliche Lehrstunde des Bilderglaubens. Die Photographien sollen eine Erscheinung beglaubigen, bekräftigen und bezeugen, die zwar nicht dargestellt wird, sich aber so oder so ähnlich hätte zutragen können. 

Die unterschiedlichen Typen der Postkartenphotos unterstützen sich dabei wechselseitig in ihrem Pseudorealismus. Ja, so haben wohl die Jugendlichen ausgesehen, denen angeblich am 24. Juni 1981 die Gottesmutter erschienen ist, und die nun ebenso stolz wie fremdelnd für die Aufnahme posieren.

Ja, so sehen Wolkenformationen aus, in denen man allerlei erkennen mag. Wer Augen hat, zu sehen, der sehe, so lautet die Botschaft.

Man muss eben nur glauben: An die Photographien, die Erscheinungen und ihre Botschaft. Sie ist erschienen: Die Gottesmutter und die Photographie. Die Photographie ist eine Erscheinung besonderer Art, die Realismus vorgeblich bezeugt und doch den Glauben an ihre Erscheinung zugleich voraussetzt. Der Glaube an die Photographie und an die Marienerscheinung sind, so sagt man uns hier, komplementär. Der Glaube findet in den Aufnahmen seine Bestätigung – und dabei ist es auch gänzlich unzweifelhaft, wie Maria ausgesehen hat.

In der Allee des Marienkonsums ist alles in Weiß getaucht: Weiße Marienfiguren blicken in gestaltgleichen Reihen in den wolkigen Himmel, so, als warteten sie auf das lebendige Vorbild ihrer gipsernen Existenz. Weiße Medaillons leuchten in der Hitze des Tages und selbst die Kruzifixe sind mitunter in weiße Farbe getaucht, so als sollten sie dem Land seine Unschuld zurückgeben, die es in den letzten Jahrzehnten verloren hat. Besonders hübsch sind winzig kleine Steinchen, die in Medaillons aus Plastik eingelassen sind und die vom “Apparation Hill”, wie es bizarr falsch in der englischen Fassung heißt, stammen. 

Der Himmel über Medjugorje © Bernd Stiegler

In anderen Sprachen ist der Lapsus begradigt oder dank der Übersetzung schlicht verschwunden, aber das Apparative der christlichen Konsumwelt keineswegs verschwunden. Das Leben hat hier eine andere Ausrichtung erhalten, ob man nun Katholik ist oder nicht. Alles dreht sich um eine Wolke, die Gestalt geworden ist. Und der Himmel ist voller Wolken, die nicht Gestalt werden wollen. Sie sind informe Gebilde, die mit dem Weiß der Marienfiguren aufs Schönste korrespondieren, aber schon lange nicht mehr die Aufmerksamkeit der Pilger auf sich ziehen. Diese wandern entlang der Figuren, die in den letzten Jahren aufgestellt worden sind, den Hügel hinauf, auf dem das Gestaltlose Gestalt wurde, und tragen den Hügel allmählich ab. Er ähnelt bereits einer dürren Wüste, in der nur noch Sträucher wachsen können, da jede andere Vegetation bereits von Ziegen oder Kamelen abgefressen wurde. Hier sind es die Pilger, die zu Tausenden aus einem Weg viele gemacht haben, Äste und Zweige mitgenommen haben und auf dem Hügel die Erde und die Steine an den Tag treten lassen. Sie sind rot und leuchten in anderer Weise den Wolken entgegen. Die einen nehmen eben Steine und Zweige vom Ort der Erscheinung mit, andere Photos aus den glücklichen Zeiten der Marienerscheinung, und die meisten Gipsfiguren der Gottesmutter. Fetische sind sie allesamt.

Eigentlich gibt es hier nichts zu sehen, blickten einen nicht die gipsernen Marienfiguren so drängend an, dass man zwischen Erheiterung und Erschütterung schwankend den Blick gen Himmel wendet und dort dem Spiel der Wolken folgt, das der genormten Formplastik der identischen Figuren den Wechsel der Erscheinungen zeigt.

Dieser Text ist zuerst in der Printausgabe von dieMotive erschienen.