Fast ein Editorial

„1951 gründen André Bazin und Jacques Doniol-Valcroze die Cahiers du cinéma und legen damit den Grundstein zu einer bis heute anhaltenden kritischen Auseinandersetzung mit dem Medium Film. […] Inspiriert von diesem kritischen Geist soll mit dem vorliegenden Heft eine Publikation entwickelt werden, in welcher sich das Hauptaugenmerk nicht auf
den Film, sondern auf die Fotografie richtet.“

So begann 2013 mein Editorial in der ersten Ausgabe der cahiers — Hefte zur Fotografie, der Zeitschriftenreihe des Masterstudiengangs Fotografie — Photographic Studies des Fachbereichs Design an der Fachhochschule Dortmund. Und so beginnt auch dieses Editorial.

Die Verwandtschaft zu der Hochschulpublikation ist deutlich spürbar, aber ebenso unvermeidlich. In der vorliegenden ersten Ausgabe von dieMotive, inspiriert von der Arbeit an den cahiers, ist der besagte „kritische Geist“ eine der Grundlagen für die Konzeption einer Zeitschrift, in der alle nur denkbaren Dimensionen berücksichtigt werden, die mit dem Medium Fotografie in Zusammenhang stehen. Die hier zusammengeführten Texte beleuchten sowohl die Zukunft als auch die Gegenwart und die Vergangenheit der Kultur der Fotografie.

Macht man die Fotografie thematisch zum Inhalt einer, wie auch immer gearteten, Publikation, stellt sich unweigerlich die Frage: Was kann das fotografische Bild? Und was kann es nicht? Interessanterweise scheint die Beantwortung dieser Frage 1826 einfacher gewesen zu sein als es heute der Fall ist. Manchmal jedoch ist der Glaube an einen Sachverhalt so groß, dass es auszureichen scheint, etwas zu fotografieren, was eigentlich nicht zu sehen ist, nur um seine Existenz zu verifizieren. Dafür muss man nicht
mal bis nach Medjugorje reisen, es reicht aus, nach oben zu schauen. Bestenfalls mit einem Smartphone als Filterebene, um bloß den direkten Augenkontakt mit der Medusa zu vermeiden. Wenn man dann noch 18 € zur Hand hat, steht einer Überbrückung von Vater, Mutter, Tochter, Sohn und Enkelin nichts mehr im Wege. Auch nicht, wenn man die Medusa, trotz des Konsums von gutem und kostengünstigem Wein, gar nicht mehr erkennen kann, sobald man auf ihr steht. Nichts zu sehen, um doch vieles zu erkennen, scheint eine der größten Stärken der Fotografie zu sein. Ist sie doch meist dann am
eindrucksvollsten, sobald die Vorstellungskraft das Abgebildete überlagert und Raum für jegliche Fantasie(n) öffnet. Mit Sandra Gugićs literarischer Bildbeschreibung möchten wir dem fotografischen Bild eine textbasierte Alternative an die Hand geben, die Erinnerung, Geschichte, Vorstellung und Interpretation zugleich sein kann.

Schauen wir wieder nach oben. Es ist eigentlich nichts zu sehen. Das Abgebildete ist nur noch als Vorstellung existent. Die Fotografie nur noch ein computergeneriertes schwarzes Loch. Also keine Fotografie mehr?

Wenn man die Flasche mit Fontcubertas Selbstgebranntem ausgetrunken hat, kann man fotografisch/konzeptionelle Arbeiten auch einfach umkommentiert präsentieren. Ist es ein entscheidender Augenblick, wenn eine Person gerade von einer im Wasser liegenden Leiter über eine riesige Pfütze springt, nur noch als schwarzer Schatten zu erkennen ist und sich dabei deutlich in der glatten Wasseroberfläche spiegelt? Irgendwo im schwarz-
weißen Paris von 1932.