Linda Fregni Nagler im MK&G Hamburg
Von Jenny Schäfer
Schon bestimmt zum zehnten Mal spielt der sigikid – Hase die Star Wars – Melodie. Mein Kind kann nicht einschlafen, denn es sorgt sich um die Seele seines Großvaters, der vor sieben Tagen verstorben ist. Mein Partner sitzt im gleichen Zimmer und sortiert sorgfältig die Mosaikcomics seines Stiefvaters. Er hat sie mitgenommen, nachdem er gestorben ist. S hat sich alle Comics von Januar 1976 bis Ende 1981 zuschicken lassen. Sein Abo begann im Alter von 13 Jahren. Auf jedem Cover liest man den Adressstempel und den Namen seiner Mutter. Die Bildgeschichten kommen grade mit einer Pappe in Archivhüllen. Ich höre ihn mit Folie und Papier hinter dem Vorhang hantieren. Die Sammlung wird zwischenprofessionalisiert und kommt dann wieder in einen Pappkarton. Ich denke über das Sammeln nach. Beim Gespräch zwischen der Künstlerin Linda Fregi Nagler, dem Kunst- und Medienwissenschaftler Steffen Siegel und der Kuratorin Esther Ruelfs, am 19.11.23 im MK&G, ging es auch um das Sammeln.
Linda Fregi Nagler beginnt ihre Sammlungen mit dem einfachen Anspruch: gibt es von einem interessanten Phänomen, z.B. den Hidden Mothers, eine Carte de Visite, sucht sie nach einem weiteren Exemplar. Ist dann noch eine dritte Ausfertigung auffindbar – gibt es mit hoher Wahrscheinlichkeit vielfache Varianten. Das Künstlerinnengespräch geht von dem Künstlerinnenbuch The Hidden Mother aus. Linda Fregi Nagler begann ihre Suche nach dem Phänomen vor zwanzig Jahren, wenn ich mich nicht verrechnet habe. Ihre Recherche dauerte zehn Jahre an und 2013 erschien ihre Arbeit in dem kuratorischen Projekt The Encyclopedic Palace Cindy Shermans auf der Biennale in Venedig. The Hidden Mother wurde einmalig in einer Ausstellung gezeigt: 997 Carte de Visite auf denen Mütter ihre Kinder fotografieren lassen und sich selbst manuell aus dem Bild retuschieren indem sie sich kunstvoll verstecken. Inzwischen wurde die Sammlung vom Nouveau Musée National de Monaco aufgekauft. Ihr Buch The Hidden Mother ist nahezu ausverkauft und ein begehrtes Sammler*innenstück. Ich konnte heute noch ein Buch zum Normalpreis kaufen und überlege ob ich mit meinen Künstlerinnenbüchern schon eine Kunstbuchsammlung habe, mit der ich gut vorsorgen kann um meine unterirdische Rente aufzubessern. Linda Fregi Naglers Buch ist online zwischen 300€ und 1140€ wert. Übrigens die Mosaiksbildgeschichten lagen mal bei 60 Pfennig, die Sammlung des Stiefvaters schätzen wir auf 300€ und viel Liebe. Meine Überraschungseierfigurensammlung habe ich dekonstruiert. Ferdi Fallobst aus dunklem Grundmaterial (Top Ü-Ei Rarität) für 2 699,00 € habe ich ohnehin nie besessen. Dafür haben mein Kind und ich erneut eine Briefmarkensammlung angelegt. Das Starter-Set Motive 100 verschiedene Tiere Marken (Briefmarken für Sammler) Säugetiere gab es für 8,99 € bei amazon vom Nikolaus.
In der Ausstellung im MKG zeigt Linda Fregni Nagler mit Fotografie neu ordnen: Blickinszenierung zwei Werkgruppen, die sie mit Arbeiten aus den Museumsbeständen der Fotografie verknüpft. Die Ausstellung fügt sich in die Reihe Fotografie neu ordnen, für die Künstler*innen als auch Wissenschaftler*innen eingeladen werden sich mit der Sammlung des MK&G auseinanderzusetzen.
In How To Look at a Camera zeigt die Künstlerin u.a. vergrößerte Fotogravüren mit Fotografien von Tapada limeñas, die sie ebenfalls als Cartes de Visites gesammelt hat. Sie findet ihre Stücke durch Internetrecherchen auf ebay und inzwischen auch durch persönliche Kontakte. Interessant ist hier besonders auch die Feststellung, dass man bei der Internetsuche, ähnlich wie in einem Archiv unterschiedliche Formulierungen und Begriffe ausprobieren muss. Ich mag die Vorstellung, dass hier die Sammlerin bei ihrer Onlinerecherche wie auch bei der Suche durch die Bestände des MK&G Hierarchien auflöst. Ein Ebayangebot von Amateur*innen ist ebenso relevant wie die Einordnung einer Archivarin oder einer Kunsthistorikerin. Sie zeigt zwischen den großformatigen Tapadas limeñas u.a. die Rückenansicht einer Ritterrüstung auf einem weiblich gelesenen Körper, einem Ritterhelm, aber auch merkwürdig unheimlichen Fotografien von vier Spiegeln, die ihr während ihrer Recherchen vom Team im MK&G vorgeschlagen wurden.
Die Spiegel sind leer, zeigen kein Spiegelbild, blicken nicht zurück und geben der Ausstellung einen weiteren Aspekt: das Unheimliche. Die Frauen schauen mit ihrem Auge einerseits stark in die Kamera. Auge um Auge. In diesem zyklopischen Moment stellt sich aber doch die Frage, so Linda Fregni Nagler, ist es nicht doch ein inszenierter, eurozentrischer, exotisierender Blick auf diese Frauen, dessen Auftreten man durch die Cartes de visite nach Europa bringen möchte? In einer weiteren Werkgruppe How To Look at a Camera, Back To Camera zeigt sie historische Fotografien, bei denen Gruppen oder einzelne Menschen ihren Rücken ablichten ließen. Linda Fregni Nagler beschreibt hier nicht nur ihr fotografisches Interesse, sondern auch ihre Überlegungen zu möglichen Interaktionen im Fotostudio. Wie kam es zu dieser Situation? Hat der Fotograf gesagt, haben die Portraitierten gesagt: ihr dreht euch, wir drehen uns jetzt mal um? Diese vielschichtigen Geschichten, die in diesen Zeitdokumenten stecken können, ergänzt die Künstlerin mit dem Augenpaar einer Totenmaske (664 – 342 v. Chr.) aus dem Erdgeschoss, wo Exponate aus dem antiken Ägypten gezeigt werden.
Dort gähnen aktuell die leeren Halter zwischen goldenen Figuren Bastets. Ein weiterer schöner Link im Haus sind die vier Spiegel in der Ausstellung Das Ornament, wo sich die Klammer zu den Spiegeln in Naglers Ausstellung schließt. Das Unheimliche, das sich hier in der Ausstellung Fotografie neu ordnen: Blickinszenierung findet ist doch nicht die Annahme der unbewussten Seelentätigkeit Freuds (1919), sondern das Offensichtliche, das Nicht-heimliche, das Tatsächliche. Linda Fregni Nagler zeigt mit ihren Sammlungen Gewesenes und Gesammeltes, das sich auflöst, in neue Sphären steigt, durch das Internet und durch Museumssammlungen wabert, gescannt, abfotografiert wird und dabei seine Intimität als auch seine Liebe zum Gegenüber nicht verliert. Vielleicht macht das einen großen Teil der Fotografie aus. Und des Sammelns. Fotografieren ist Sammeln vielschichtiger Geschichten. Fiel mir erst eben beim Schreiben auf, dass in beiden Worten das Wort SCHICHT steckt. Dieses sedimenthafte der Fotografie und des Sammelns, Stapelns, Einpackens und Auspackens haben Künstler*innen, Privatsammler*innen und Archivar*innen gemein.
Coverbild: Bild aus der Ausstellung von Linda Fregni Nagler (Ausschnitt)