Fake Narrative in der Fotoszene

Von Alexander Hagmann

Richtig und falsch, schwarz und weiß, links und rechts scheinen mittlerweile die einzig gültigen Kategorien im öffentlichen Diskurs zu sein, der sich in den diversen Kommentarspalten der Social-Media-Plattformen ergießt. Gut, dass es in der Kulturszene viele kluge Köpfe gibt, die sich nicht so schnell hinter das Licht einer immer heller leuchtenden Erregungsspirale führen lassen. Denkste. 

Auch Teile der Fotografieszene in Deutschland zeigen erste Symptome des Umstands, dass man mit Polemik, Anfeindung und substanzloser Kritik sehr schnell Aufmerksamkeit, Klicks und Likes generieren kann. Dabei war ich immer davon überzeugt, dass einer Fotografieszene, die sich dem Kulturbetrieb zugehörig fühlt, Nachdenklichkeit und Selbstreflexion immanent sind. Wie naiv. 

Nicht erst seit dem Aufflammen des Nahostkonflikts wird in weiten Teilen wieder Position bezogen, oder man äussert sich, wie und wo es nur geht. 

Was im Falle des Nahostkonflikts mittlerweile bis zur Absage einer Fotobiennale, zur Beendigung von Arbeitsverhältnissen und Kooperationen zwischen Institutionen und KünstlerInnen sowie KuratorInnen oder zur Auflösung der Findungskommission zur Documenta geführt hat. Muss man das bewerten? Vielleicht. Aber direkt, unmittelbar und ohne die nötige Ruhe sicher nicht. Es stellt sich leider immer mehr heraus, dass es besser ist, die eigene Haltung mehrmals auf den Prüfstand zu stellen und sich selbst als erstes zu misstrauen.

Was weiß ich schon? Was wissen wir? Eigentlich nichts. Nur das, was in Pressemitteilungen oder Erklärungen veröffentlicht wird. Plus dem Rauschen der Social-Media-Plattformen. Ich jedenfalls war bei keinem der Gespräche zwischen den verschiedenen Parteien dabei. Ziehe ich alle möglichen (mal plausiblen, mal zweifelhaften) Vermutungen ab, stehe ich vor einem nur allzu menschlichen Problem, dem Entscheiden in Unwissenheit. Wie man damit umgehen kann, beschreibt Daniel Kahnemann ausführlich in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“. In diesem Buch stellt er auch sehr gut dar, wie und welche Fehler wir Menschen bei der Beurteilung verschiedenster Sachverhalte immer und ständig machen. 

In den oben genannten Fällen kommen mehrere Faktoren zusammen, von denen vor allem einer eine tragende Rolle spielt: Die WYSIATI-Regel. What you see is all there is. Das Unterbewusstsein (bei Kahnemann System 1) konstruiert aus den wenigen verfügbaren Informationen eine plausible Geschichte, die sofort an System 2 (bewusstes Denken) weitergeleitet und fast immer unkritisch übernommen wird. Gerne lassen wir Menschen diese Geschichte dann noch von uns selbst bestätigen, indem wir alle passenden Informationen zusammensuchen, damit wir auch ganz sicher richtig liegen. Nennt sich „Confirmation bias“. Tadaaa, willkommen in der Welt der kognitiven Verzerrungen. Kaum jemand kann sich davon befreien. Es geschieht nicht bewusst. Dabei könnte es helfen, erst einmal tief durchzuatmen und zu überlegen, ob man sich nicht doch irren könnte, bevor man sich zu allem und jedem äussert.

Menschen unterliegen Fehlerquellen, insbesondere bei der Selbstbeurteilung und den Schlussfolgerungen, die sie aus einem oberflächlichen Blick auf die komplexe Welt und ihre Strukturen ziehen. Es müssen nicht immer große Krisen wie Terror, Corona, Ukraine oder der Nahe Osten sein, an denen unser Unwissen auf die Probe gestellt wird. Auch in der Fotografieszene verbreiten sich kleine Fehleinschätzungen, die dann in Form von Kritik einem breiten Publikum präsentiert werden.

Prominenteste Beispiele für solche Fehleinschätzungen bieten immer wieder die Texte im Fotolot des Online-Kulturmagazins Perlentaucher. Der Autor schreibt, hackt, kämpft und schießt sich regelmäßig durch die deutsche Fotolandschaft. Und meint das alles natürlich ernst. Warum das so ist? Das weiß nur er selbst. Könnte man auch ignorieren, mag man jetzt denken. Ja, könnte man. Wenn jedoch der Autor aufgrund seiner polemischen, provokanten und teilweise konspirativen Texte zur DFA-Tagung eingeladen wird, dann wird eine Dimension der Verzerrung erreicht, der ich mich gerne widersetze.

Am 28.09.23 veröffentlichte der Autor einen Text mit dem Titel „Tritsch-Tratsch-Polka“, in dem er sich nicht zu schade ist, eine „Folkwang Seilschaft für Fotografie“ zu erfinden, ohne dies in irgendeiner Weise zu belegen oder wenigstens zu erklären, wie das genau funktionieren soll. 

Seine Argumentationstechnik ist so erschreckend wie dumm: Nacheinander aufzählen wer wen kennt, wo in welchem Gremium sitzt, wo studiert oder wo publiziert hat. Das war’s. Mehr nicht. Zugleich versucht er in besagtem Text durch simples Namedropping ein Narrativ in Gang zu setzen, das in etwa so geht: In Deutschland gibt es die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung in Essen, die mit dem Museum Folkwang und der Folkwang Universität der Künste verbunden ist und mit ihrem Stipendienprogramm „Museumskurator*innen für Fotografie“ das Monopol auf Kurator*innenstellen in Deutschland hat. 

Wo soll man da anfangen zu lachen oder zu weinen?

What you see is all there is.

Man muss sich nur einmal die Mühe machen, alle KuratorInnen im Bereich Fotografie im deutschsprachigen Raum sowie die möglichen Institutionen zu recherchieren, um dann zu errechnen, wie viele ehemalige Krupp-Stipendiat:innen heute tatsächlich in den Institutionen arbeiten. Außerdem sollte man nie vergessen, wie viele Kurator:innen überhaupt bisher aus dem Stipendienprogramm hervorgegangen sind. Laut Webseite seit 1999 alle zwei Jahre drei. Also 36.

Wo sind die alle? Wer hier von einem Monopol spricht, kann nur eines im Sinn haben: Polemik, Aufregung und billig erkaufte Aufmerksamkeit. Gehen wir einmal von der naheliegenden Idee aus, dass das Stipendium auch einfach sehr, sehr gut ist und hervorragend ausgebildete KuratorInnen hervorbringt, was gibt es dann zu kritisieren? Vielleicht könnte man auch eher mal applaudieren und sich über ein solches Stipendienprogramm freuen. 

Und dass diese Kurator:innen mittlerweile auch an prominenten Positionen wie den Deichtorhallen oder C/O Berlin arbeiten, ist vermutlich eher auf den voranschreitenden Generationenwechsel in Kombination mit der guten Ausbildung zurückzuführen als auf irgendwelche Seilschaften.

Schon vorher hat der Autor in einem Text die „Ostkreuz Seilschaft für Fotografie“ erfunden, um Ingo Taubhorn und Felix Hofmann für was auch immer zu kritisieren. Direkt nach dieser Veröffentlichung war mein erster Impuls, vehement zu widersprechen. Geschrieben, aber nie veröffentlicht. Was hätte das gebracht? Genau, nichts. Im Zuge des erneut verbreiteten Unsinns und der darauf folgenden Bemühungen von Boris Eldagsen, den Autor zur DFA-Tagung einzuladen (hat kurzfristig abgesagt wegen Krankheit), sowie der Idee von Damian Zimmermann, wegen des genannten (Folkwang)Textes eine Umfrage für das Fotoblättchen Profifoto zu erstellen, werde ich den Text im Nachgang zu diesem Newsletter doch noch veröffentlichen (HIER), um einmal (ein wenig überspitzt und nicht ohne Zwinkersmiley) aufzuzeigen, mit welch selten dummen Mitteln in diesem Fall (Ostkreuz, Taubhorn, Hoffmann) versucht wird, eine verschwörungsähnliche Verbindung zu erfinden.

Auch Damian Zimmermann scheint sofort auf dieses Narrativ (er benutzt für die Bewerbung der Umfrage tatsächlich das Wort Gefahr) einer Folkwang Seilschaft für Fotografie aufzuspringen und es weiter zu verbreiten. Hätte man sich vielleicht vorher überlegen können, ob das plausibel ist? Also mal wieder: Klickbait und Aufmerksamkeit durch mangelnde Impulskontrolle oder Reflexion.

In Bezug auf künstlich generierte Bilder herrscht mittlerweile eine gewisse Aufregung, da diese zur Verbreitung von Fake News beitragen können. Jedoch werden gleichzeitig menschlich generierte Fake Narrative unkritisch übernommen und vehement geglaubt. Das verstehe ich nicht.

Die Welt brennt an vielen Ecken und Enden. Ob ökologisch, sozial, politisch oder kumuliert in den Weiten des Internets. Dass es in der Fotografieszene als völlig normal hingenommen wird, sich nur noch der Provokation hinzugeben, um Aufmerksamkeit zu erregen, wirft ernsthaft die Frage auf: Wollen wir das? Ich will das nicht. Mich nervt das sogar. Es nimmt viel Raum ein, der doch besser mit guten Dingen gefüllt werden könnte oder zumindest den Blick vor größeren Problemen versperrt.  

Kritik als Selbstzweck hilft nur dem Kritiker (ohne Gendersternchen). Angesichts der fragilen Situation in der Welt erwarte ich tatsächlich, dass sich Teile einer Szene nicht dem Drang hingeben werden, nur durch Ausgrenzung, Anfeindung und Fingerzeig als relevant gelten zu wollen. Manchmal kann es schon sehr gut sein, einfach nichts Böses zu wollen.

Wäre es nicht an uns, sich um eine differenzierte und ausgewogene Darstellung zu bemühen, mit positiven Impulsen zur Verbesserung beizutragen, Dinge, die nicht gut laufen, einfach selbst besser zu machen? Oder es zumindest zu versuchen, anstatt nur mit dem Finger auf andere zu zeigen und sich damit aus der Verantwortung zu stehlen? 

Dabei soll dieser Text nicht nur als Kritik an der Polemik herhalten, sondern auch den Wunsch in sich tragen, dass wir doch mehr wollen müssten als nur Aufmerksamkeit und Selbstvermarktung.

Natürlich gibt es unzählige positive Beispiele, die ich mir für einen der nächsten Newsletter vornehme. 

Zuvor aber empfehle ich jedem, sich noch die Ausstellung von Mary-Ellen Mark bei C/O Berlin anzusehen. Was man in dieser Ausstellung lernen kann, ist die Hingabe und Beharrlichkeit, mit der sich Mary-Ellen Mark dem Humanismus verschrieben hat. Dazu musste sie nicht die beste Fotografin der Welt sein, es genügte, ein gutes Herz zu haben und Gutes zu wollen. Mir jedenfalls hat die Ausstellung den Anstoß gegeben, noch mehr am Guten zu arbeiten und das Schlechte nicht mehr als selbstverständlich hinzunehmen. Und zukünftig eher zu ignorieren.  

Würde ich mir für das Fotolot auch wünschen.